Promotionsprojekt

Transnationale, postkoloniale Erinnerungsarbeit durch Tourismus? 

Wissenssoziologische Diskursanalyse deutsch-tansanischer Erinnerungspolitiken im Tourismus zur geteilten Kolonialgeschichte
 

Abstract

Tansania war von 1885 bis 1918 Teil der Kolonie "Deutsch-Ostafrika". Gewalt, illegitime Landnahme, zivilisatorische Mission, ausbeuterische Politik sowie Eingriffe in etablierte soziokulturelle Gesellschaftssysteme haben in Tansania wie in Deutschland ihre Spuren hinterlassen: Das koloniale Erbe besteht heute aus Infrastrukturen, ökonomisch-neokolonialen Abhängigkeiten, Stereotypen und Vorurteilen, globalen politischen Macht(un)gleichheiten, Heldenerzählungen, traumatischen Familiengeschichten, geraubten Kunstwerken oder postkolonialen Wissensstrukturen. Tansania ist auch ein beliebtes Urlaubsziel. Bei einer Reise nach Tansania begegnen sich die miteinander verflochtenen Kollektive Deutschlands und Tansanias, eingebettet in ambivalente, widersprüchliche, heterogene Diskurse und Debatten über die Erinnerung an das gemeinsame koloniale Erbe. 

Das Dissertationsprojekt untersucht empirisch die diskursiven Verhandlungen über den Umgang mit dem kolonialen Erbe in Tansania - im (Kultur- und Kulturerbe-)Tourismussektor. Welche Einstellungen haben die verschiedenen Akteure auf deutscher und tansanischer Seite zu transnationaler Erinnerungsarbeit und Tourismus? Wird - und wenn ja wie, wo und warum - die deutsch-tansanische Kolonialgeschichte in Tansania rezipiert, reflektiert, erinnert und/oder für den Tourismus genutzt? Und welche Argumentationsmuster und Deutungskonflikte ergeben sich daraus? 

Die empirische Arbeit folgt dem Forschungsprogramm des wissenssoziologischen Diskursansatzes (Reiner Keller), der Wirklichkeitskonstruktionen auf der Ebene institutioneller Akteure untersucht sowie Deutungen und Wissenspolitiken nachzeichnet und kontextualisiert. Erinnerungspolitiken des Vergessens, Ignorierens, Kapitalisierens, Gedenkens oder Umdeutens sowie die Debatte um den angemessenen Umgang mit Kolonialgeschichte im Bereich des Tourismus stehen dabei im Mittelpunkt. In einer Kombination aus Textanalyse, teilnehmender Beobachtung und leitfadengestützten Experteninterviews wird diese Untersuchung mit qualitativen sozialwissenschaftlichen Methoden durchgeführt.

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Projektskizze

1. Ausgangslage

Von 1885 bis 1918 war das Gebiet des heutiges Tansanias (ohne Sansibar), Burundis, Ruandas sowie ein kleiner Teil Mosambiks die Kolonie Deutsch-Ostafrika. Wirtschaftliche Ausbeutung von Land und Leuten, Gewalt, Umstrukturierung von Politik, Justiz und Bildungswesen haben ihre Spuren hinterlassen. (Conrad 2016: 31f., 116–124; Speitkamp 2021: 181-189) Am Beispiel von Tansania zeigt sich der ambivalente deutsche Blick auf dieses Land: koloniale Eroberung, Entwicklungszusammenarbeit, Reiseziel. Im Tourismusbereich begegnen sich die zwei verflochtenen Kollektive Deutschland und Tansania, eingebettet in konfligierende, heterogene Debatten um das geteilte Kolonialerbe.

2. Fragestellung

Es bleibt zu fragen: Wie verhalten sich die Themenkomplexe »Tourismus in einer ehemaligen Kolonie« und »Umgang mit der / Erinnerung an die Kolonialgeschichte« zueinander? In diesem Promotionsprojekt soll empirisch erforscht werden, welche diskursiven Verhandlungen es über den Umgang mit dem kolonialen Erbe in Tansania gibt – in Bezug auf Tourismus. Mit der Forschungsperspektive der Wissenssoziologischen Diskursanalyse (vgl. 6) wird ein Fokus auf die Wissenspolitiken und Positionierungen zu kollektiver Erinnerung der am Diskurs beteiligten institutionellen Akteur*innen gerichtet. Es ist von Interesse, Argumentationslogiken und Deutungen zu analysieren bezüglich der Frage, ob, und wenn ja welche Rolle Tourismus und Reisen nach Tansania für eine kollektive, transnationale Erinnerungsarbeit haben. Die sich aus der Diskussion ergebenden Deutungskonflikte, zum Beispiel darüber, an welchen Orten die Kolonialgeschichte (touristisch) erfahrbar oder ihrer gedacht wird – und warum (nicht), werden dabei rekonstruiert. Demnach lautet die Forschungsfrage: Wie wird die deutsch-tansanische Kolonialgeschichte in Tansania im Kontext Tourismus rezipiert, reflektiert, erinnert und/oder touristisch genutzt und welche Deutungen und Konflikte ergeben sich daraus? 

3. Kontextualisierung

3.1 Deutsche Kolonialgeschichte Tansanias 

Der Beginn deutscher Kolonisierung in Ostafrika wird vor allem mit der Person Carl Peters verbunden, der mit seiner privaten »Gesellschaft für deutsche Kolonisation« Territorium erwarb. Aufstände der einheimischen Bevölkerung, gewaltsame Konflikte und wirtschaftliche Inkompetenz der Kolonialist*innen bewogen die deutsche Reichsregierung zu einem Politikwechsel in Richtung formale Kolonialherrschaft (Conrad 2016: 31ff.). Ab 1891 übernahmen die Deutschen die Verwaltung von Deutsch-Ostafrika und begannen mit dem Aufbau einer Infrastruktur zu ihren Gunsten (:32, 55; Masebo 2021: 553). Wegen der illegitimen Landnahme, der maßlosen Gewalt, der Ausbeutung von Land und Leuten sowie der Einmischung in etablierte soziokulturelle Gesellschaftssysteme kam es auf Seiten der Einheimischen immer wieder zu Widerstandskämpfen und Aufständen, die die koloniale Herrschaft in Frage stellten (Conrad 2016: 53f.). Während des Ersten Weltkriegs verloren die Deutschen ihre Kämpfe auf ostafrikanischem Boden gegen britische und belgische Truppen. Als Folge erhielt 1918 die britische Kolonialmacht den größten Teil Deutsch-Ostafrikas, welcher in »Tanganyika« umbenannt wurde. Kurz nach seiner Unabhängigkeit 1961 vereinigte sich das Festland Tanganyika mit der Insel Sansibar zur Vereinigten Republik Tansania. Heutzutage wird Tansania aus deutscher Sicht oft als Entwicklungsland sowie Exportland wahrgenommen. Zuletzt entwickelte sich Tansania zu einem immer beliebteren Reiseziel. 

3.2 Kollektive Erinnerung

»Erinnern« liegt die Aufforderung inne, etwas nicht zu vergessen, sondern um Vergangenes zu wissen (Berek 2009: 30f.). »Vergessen« wiederum heißt, etwas nicht mehr zu wissen und hat die „Funktion, von Relevanzen gesteuert […] aus der Fülle der Gedächtnisinhalte eine Auswahl zu treffen“ (:191). Erinnern und Vergessen sind kein automatischer Prozess, sondern aktive soziale Praxis (Assmann 1988; Halbwachs 1985). Erinnerungen sind Inhalte des »Gedächtnisses«: also Deutungsmuster oder Symbolsysteme, kurz: Wissen mit Vergangenheitsbezug (Berek 2009: 30). Das Gedächtnis ist kein statischer Wissensspeicher, sondern die Gesamtheit aktuell verfügbarer Verhaltensdispositionen (Dimbath & Heinlein 2015: 15, 164). Dieses Wissen wird von institutionellen Akteur*innen (re-) produziert und ist somit wissenssoziologisches Interesse (Berek 2009: 16, 22; 2014: 48). Das kollektive Gedächtnis ist eine komplexe Entität, die zur Legitimierung von z.B. Identität oder Institutionen beiträgt. Das kollektive Gedächtnis ist nicht, sondern wird gesellschaftlich ausgehandelt und dynamisch umkämpft (Berek 2009: 188ff.; Dimbath & Heinlein 2014: 5, 9, 2015: 191-255). In dieser Arbeit werden Deutschland und Tansania als Bezugspunkte für kollektives Gedächtnis und Erinnerungsarbeit gesetzt. Als analytisches Forschungswerkzeug soll das Konzept der »Erinnerungsorte« von Pierre Nora ([1984-1992] 2005) dienen. Erinnerungsorte sind „diskursive Chiffren“ (Siebeck 2017: o.S.), in denen sich Spuren der Kolonialgeschichte zeigen: Denkmäler, Museen, Gräber, Personen, Feste, Bilder, Rituale oder Schlagwörter (Nora [1984-1992] 2005: 569). Solche Orte sind Anhaltspunkte für Erinnerung und Gedächtnis. (Heyden & Zeller 2007: 9; Berek 2009: 171) Erinnerungsorte sind nicht naturgegeben, sondern werden als bestimmte, verdichtete Knotenpunkte eines Diskurses verstanden.[1] Die kollektiven Aushandlungsprozesse, wie wo was erinnert wird und was nicht vergessen werden darf, bzw. was zum materiellen und immateriellen Kulturerbe eines Kollektivs gehört, wird kulturwissenschaftlich als »Erinnerungskulturen« beschrieben (Berek 2009: 40, 53, 192; 2014: 53). »Erinnerungsarbeit« wiederum ist das (intendierte) Angebot zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Das Promotionsprojekt fragt nach der touristischen Nutzung des Kolonialerbes, nicht (nur) im Sinne einer „Kommerzialisierung, sondern auch […] als Gegenstand für Bildungszwecke und [zur] Aufarbeitung des Kolonialismus“ (Hartmann 2020: 186).

3.3 Tourismus als Praxis

Die Anzahl grenzüberschreitender Reisen weltweit ist auf rund 1,5 Milliarden internationale Reiseankünfte in 2019 gestiegen. Auch in Tansania ist ein Anstieg um mehr als das Doppelte in nur zehn Jahren zu verzeichnen. (Tanzania Tourism Sector Survey 2010: 5; Statista Research Department 2021)[2] Die Hälfte der 2018 ankommenden Reisenden kam aus anderen afrikanischen Ländern, der Anteil deutscher Ankünfte lag bei 4%. Damit liegt Deutschland nach den USA und Großbritannien auf Platz 3 außerafrikanischer Reisender nach Tansania. (UNWTO 2019: 4) Tourismus ist ein ambivalenter Diskussionsgegenstand zwischen Horizonterweiterung, interkulturellen Austausch, Arbeitsplatzschaffung, Wirtschaftsmotor, Umweltsünde, Menschenrechtsverletzungen und stereotypen Ausverkauf der Kulturen. Touristische Praxen können in eine koloniale Kontinuität gesetzt werden; zum Beispiel die meist monodirektionale Reiserichtung vom Norden in den Süden, der Wunsch nach Abenteuern, infrastrukturelle Zugänge zum Reisemarkt oder das Privileg der Freizeit (Adu-Ampong u.a. 2021: 8; Freese 2015: 546,550; Hall & Tucker 2004: 2).


 

[1] Noras »Les lieux de mémoire« lassen sich als einseitig kritisieren. Der Historiker beansprucht die Deutungshoheit über eine homogene Gedächtnisgemeinschaft (Berek 2009: 41). Für sozialwissenschaftliche Forschung reiche es nicht, Erinnerungsorte zu inventarisieren, sondern es sei zu analysieren, wie sie sich zueinander verhalten, welche Bedeutungen ihnen zugeschrieben werden, so Siebeck (2017: o.S.).

[2] Aufgrund der Covid19-Pandemie sind die Zahlen seit 2020 stark eingebrochen und erholen sich nur langsam.

4. Theoretische Vorüberlegungen 

Das koloniale Erbe deutsch-tansanisch geteilter Geschichte hat tiefe Spuren in beiden Ländern hinterlassen. Ausgangspunkt für die empirischen Recherchen dieses Promotionsvorhabens sind immaterielle wie materielle Erinnerungsorte in Tansania wie beispielsweise Reiseliteratur als kanonische, selektive, mitunter hegemoniale Wissensquelle über das Land (Rodrian 2009: 112); das National Museum of Tanzania in Dar Es Salaam sowie das Arusha Declaration Museum; Denkmäler für Widerstandskämpfer*innen; Bauwerke wie Kirchen, Friedhöfe oder Regierungsgebäude in Moshi, Bagamoyo, Dar Es Salaam, Tanga und weiteren Orten. Lwoga und Adu-Ampong konstatieren, dass der touristische Umgang mit kolonialen Erinnerungsorten ambivalent ist (2021: 74): Die Debatte dreht sich um Fragen angemessener Beteiligung der local communities, Zugang zu adäquaten Informationen über die eigene Geschichte, ökonomische Abhängigkeit von Eintrittsgeldern und damit verbundenen Erwartungserwartungen an Tourist*innen, Möglichkeiten, Narrative des Widerstands einzubringen oder Vorwürfe der Instrumentalisierung des Kolonialerbes  (Lwoga 2017: 10, 17; Mabulla & Bower 2010). Staatliche Akteure wie das Tanzanian Tourist Board (TTB) und das Ministry of Natural Resources And Tourism legten bislang einen Fokus auf Wildlife-Safaris und Strandurlaub (Mgonja 2021: 404f.). Um die Zahl der Reisenden nach Tansania zu erhöhen, wird seit einigen Jahren eine neue Strategie verfolgt: die touristische Erschließung des Südens Tansanias sowie der Ausbau von »Cultural Heritage Tourism« (AfroNews 2021; Lwoga 2017). In einem größeren Zusammenhang steht die Debatte, was tansanisches Kulturerbe ist, und welchen Platz darin die Kolonialgeschichte einnimmt. Diskursprägende Institutionen wie die UNESCO verfolgen eine vorwiegend eurozentrische, materialistische Definition von Kulturerbe nach westlichen Maßstäben von Schönheit und Wertigkeit (Raimann 2019: 24–28). Somit sind in Tansania die meisten der im Tanzanian National Cultural Heritage Register 2012 verzeichneten Nationalerbestätten ausländischen Ursprungs. Lwoga und Adu-Ampong kritisieren, dass ein großer Teil afrikanischer Kulturpraktiken und -Güter ignoriert, unidentifiziert und undokumentiert bleiben (2021: 74). Ein Fokus auf koloniale Erinnerungsorte im Tourismus kann somit auch als postkoloniales Erbe interpretiert werden, wurden doch durch die Kolonialherrschaft lokale Traditionen, Gebäude, Kulturgüter, Wissen und Kulturen marginalisiert, verboten, zerstört oder außer Landes gebracht (Lwoga 2017: 17).

5. Zum Stand der Forschung

Für Kontextwissen zur deutsch-tansanischen Kolonialgeschichte sind vor allem die Arbeiten der Historiker Sebastian Conrad (2016), Winfried Speitkamp (2021) und John Iliffe (1969, 1979) zielführend. Während sich einige Werke mit Spuren der Kolonialzeit in Deutschland auseinandersetzen (u.a. Bechhaus-Gerst & Zeller 2021; Geiger & Melber 2021; Heyden & Zeller 2007; Zimmerer 2013), gibt es weniger Forschung zu Tansania. Die Historiker Oswald Masebo und Reginald Elias Kirey forschen über deutsch-tansanisches Kolonialerbe in Tansania (Boieck & Kirey 2021; Masebo 2021) und auch die Zusammenstellung architektonischer Überbleibsel von Rolf Hasse (2005, 2012) muss in diesem Kontext erwähnt werden. Zum Thema Restitution von Kulturgütern und Human Remains steigt die Anzahl der Forschungsbeiträge stetig (u.a. Reyels et al. 2018); aktuelle und sozialwissenschaftliche Literatur über Tourismus in Tansania in Kombination mit Kolonialgeschichte konnte jedoch nur wenig ausfindig gemacht werden. In ihrer Masterarbeit bewertet Lena Raimann koloniale Erinnerungsorte in Tansania nach ihrem touristisch-ökonomischen Potential (2019), analysiert aber nicht die Wissen(spolitiken) der Akteur*innen. Geograph Rainer Hartmann vergleicht den touristischen Umgang mit dem Kolonialerbe in Namibia und Tansania (2020) und wirft einen mikrosoziologischen Blick auf die Tourist*innen. Institutionelle Akteure und gesellschaftspolitische Diskurse erwähnt er nur peripher. An diesen offenen Punkt möchte dieses Vorhaben anknüpfen. Zum Thema Tourismus bietet das „Routledge Handbook of Tourism in Africa“ (Novelli et al. 2021), darin „Development of tourism in Tanzania“ (Mgonja 2021) und „Heritage And Heritage Tourism in Africa“ (Lwoga & Adu-Ampong 2021) einen guten Ein- und Überblick. Auch der Sammelband „Tourism and Postcolonialism“ (Hall & Tucker 2004) ist hilfreich. Schließlich kann die Verfasserin ihre eigenen Arbeiten zu Postkolonialismus und Tansania (Seydel 2018, 2020), sowie ihre Netzwerke (Augsburg Postkolonial; Tanzania Network.de e.V.) einbringen. Zum Topos Erinnerung wird an Maurice Halbwachs (1985) oder Alfred Schütz (1932; 1979), oder auch Aleida und Jan Assmann (u.a. 1988) angeknüpft. Hierbei sind vor allem die Überlegungen der Wissenssoziologen Oliver Dimbath und Michael Heinlein (2014, 2015) sowie Mathias Berek (2009, 2014; Berek u.a. 2020) hilfreich. Prototypisch beziehen sich viele Beispiele auf Erinnerung an den Nationalsozialismus. Die Kolonialgeschichte hat keine so prominente Stellung in der Erinnerungsforschung. Dies vermag eine Leerstelle aufzuzeigen, zu deren Füllung diese Arbeit beitragen kann. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die vielfältigen Fragestellungen erforscht werden, jedoch unabhängig voneinander und soziologisch nicht immer anschlussfähig sind. Diese Arbeit verknüpft in einer wissenssoziologischen Herangehensweise diese Thematiken.

6. Forschungsperspektive und methodisches Vorgehen

Das epistemologische Verständnis dieser Arbeit basiert auf sozialkonstruktivistischen Prämissen. In Ergänzung zu den Soziologen Berger und Luckmann, die das Alltagswissen im Blick haben (u.a. [1969] 2012), werden in dieser Arbeit – in Anschluss an Reiner Keller – gesellschaftliche Konstruktionen von Wirklichkeit auf der Ebene von Akteur*innen, Strukturen und weiteren institutionellen Feldern der Gesellschaft in den Fokus genommen (Keller 2010: 198–205, 2011b: 136, 147). Sie verhandeln dabei, was Kolonialerbe und erinnernswert ist, welche Argumente legitim sind oder nicht und welche Orte ob und wie touristisch genutzt werden können/sollen. Mithilfe der Forschungsperspektive der Wissenssoziologischen Diskursanalyse (WDA) lassen sich dabei diese Kämpfe um Wissensbestände, die Konstruktion von Deutungsstrukturen sowie die Prozesse, in denen Wissen zur Wirklichkeit wird, analytisch untersuchen (2011b: 126). Ausgehend von einer Wirkmächtigkeit des Gesprochenen und Geschriebenen lassen sich Diskursaussagen aus Texten rekonstruieren (2011a: 97). Diese Texte sind „Manifestationen gesellschaftlicher Wissensordnungen und damit […] wichtigste Grundlage einer wissenssoziologischen Rekonstruktion der Produktion, Stabilisierung und Veränderung kollektiver Wissensvorräte“ (:78). Die sinnverstehende Interpretationsarbeit dieser Texte wird in Anlehnung an die Grounded Theory in einer ergebnisoffenen Forschungslogik durch ein mehrstufiges, systematisches Auswertungs- und Kodierverfahren geleistet (Strübing 2008: 18).  Das Analysematerial wird theoriegeleitet und nach dem Prinzip der minimalen/maximalen Kontrastierung zusammengestellt (Keller 2011a: 90ff.; Strauss & Corbin 1996: 148ff.). Hier sind der Forscherin vor allem die zahlreichen englischsprachigen tansanische Zeitungen zugänglich; zweisprachige Behördenpublikationen wie beispielsweise des Tanzanian Tourism Boards; deutschsprachige Reiseführer und Webseiten von Reiseunternehmen in Tansania. Der Zugang zum Konfliktfeld ist ausreichend gewährleistet. Des Weiteren werden problemzentrierte, leitfadengestützte Expert*inneninterviews nach Meuser und Nagel (2005, 2010) und Witzel (1982, 2000) mit institutionellen Akteur*innen z.B. des Tanzanian Tourism Board, des Zusammenschluss privater Reiseakteure »Tourism Confederation of Tanzania (TCT)«, Museen, Reiseunternehmen, Stadtführer*innen oder NGOs geführt. Eine Herausforderung der Forschung bleibt die Weiß-privilegierte Forscherinnenposition, sowie begrenzte Suahelikenntnisse. Zuletzt können zeitliche und organisatorische Faktoren (u.a. im Zusammenhang mit der Covid19-Pandemie) Grenzen für die Umsetzung dieser Arbeit darstellen.

7. Ausblick

Ziel des Promotionsprojekts ist es, Diskurse um Tourismus und Erinnerung an das geteilte Kolonialerbe in Tansania nachzuzeichnen. Dieses Promotionsvorhaben kann somit erkenntnisreiche Schlaglichter auf die Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte und die Rolle von Tourismus werfen. Im Anschluss könnten praxisrelevante Empfehlungen zur transnationalen Erinnerungsarbeit in Bezug auf das geteilte Kolonialerbe gegeben werden.

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